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05.07.2022

Kapitalgedeckt finanzierte Pflegekosten – Demografievorsorge besser in privater statt öffentlicher Hand

Von Prof. Dr. Michael Hüther, Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), und Co-Autor Dr. Jochen Pimpertz, Leiter des Kompetenzfelds „Öffentliche Finanzen, Soziale Sicherung, Verteilung“ im IW

Umlage oder Kapitaldeckung? Pflegefinanzierung im demografischen Wandel

Mehr Personal, höhere Entlohnung, Begrenzung der Eigenanteile – die aktuelle Pflegepolitik fokussiert die Versorgungsbedingungen der Pflegebedürftigen und des Pflegepersonals, vernachlässigt aber Fragen der nachhaltigen Finanzierung. Doch bereits ohne zusätzliche Leistungsversprechen wird die Bevölkerungsalterung den Finanzierungsbedarf absehbar in die Höhe treiben: Vor allem hochbetagte Menschen sind von einem hohen Pflegefallrisiko betroffen. Diese Gruppe wird künftig größer sein. Deshalb muss die Gesellschaft mit steigenden Fallzahlen, einem höheren Versorgungsbedarf und wachsenden Pflegeaufwendungen rechnen.
Das stellt vor allem die gesetzliche Pflegeversicherung (SPV) vor Herausforderungen, die im Umlageverfahren rund neun von zehn Bürgern absichert. Hier müssen die jährlichen Leistungsausgaben aus den zeitgleich erzielten Beitragseinnahmen finanziert werden. Das wird künftig immer schwerer fallen, weil die Demografie ihre Spuren auch auf der Einnahmenseite hinterlässt. Denn das beitragspflichtige Einkommen der Versicherten ist im Ruhestand in der Regel niedriger als im Erwerbsalter. Wenn künftig mehr Menschen im Ruhestand leben, ihnen aber weniger Erwerbstätige folgen, dann fällt die Entwicklung der Beitragseinnahmen bei unverändertem Beitragssatz immer weiter hinter das erwartbare Wachstum der Pflegeaufwendungen zurück. Diese Lücke zu schließen, erfordert einen steigenden Beitragssatz.
Damit steht die Pflegepolitik vor einem Dilemma: Verspricht sie der wachsenden Anzahl älterer Bürger eine unverändert hohe Absicherung im Pflegefall, muss sie die jüngeren Kohorten immer stärker belasten – das droht nicht nur deren Beschäftigungs- und Einkommenschancen zu beeinträchtigen, sondern auch die Akzeptanz der SPV. Sollen dagegen die jüngeren Beitragszahler nicht über Gebühr belastet werden, fehlen Mittel für die Versorgung der Pflegebedürftigen; auch das belastet die Akzeptanz der Pflegeversicherung. Einen Ausweg kann eine ergänzende, kapitalgedeckte Finanzierung der Pflegekosten bieten, denn in den anwartschaftsgedeckten Finanzierungsmodellen der Versicherungswirtschaft ist es möglich, steigende Ausgaben durch Finanzmarktanlagen abzufedern.

Die Idee: Kreditfinanzierter Aufbau eines Kapitalstocks

Das Problem ist nicht neu und hat auch den ehemaligen Bundesgesundheitsminister Jens Spahn umgetrieben. Ihn bewegte die Idee, den Beitragssatzanstieg im Umlageverfahren zu deckeln und daneben eine zweite Finanzierungssäule im Kapitaldeckungsverfahren aufzubauen, aber in der Hand des Staates. Die Überschüsse aus einer Kapitalanlage sollten genutzt werden, nicht länger beitragsfinanzierte Leistungsausgaben der SPV zu decken. Wie aber kann ein ausreichend hoher Kapitalstock aufgebaut werden? Statt Beitrags- oder Steuerzahler zu belangen, schwebte ihm ein kreditfinanzierter Fondsaufbau vor.
Angesichts des niedrigen Zinssatzes für Bundesanleihen und der verlockenden Renditechancen auf den Aktienmärkten – so die Idee – sollte ein Kredit zu günstigen Konditionen am Kapitalmarkt aufgenommen werden, um die Mittel mit höheren Renditechancen anzulegen. Die Rendite-Zins-Differenz ließe sich zunächst nutzen, um die Bundesanleihen zurückzuzahlen. Im Idealfall könnte der Staat nach erfolgter Tilgung einen Vermögenszuwachs verbuchen und ab dann die aus der Kapitalanlage erzielbaren Überschüsse zur Finanzierung der Pflegekosten verwenden.
Im Sommer 2020 beauftragte das Bundesgesundheitsministerium (BMG) deshalb in einem Konsortium das Institut der deutschen Wirtschaft (IW) zusammen mit dem DIW Berlin, dem ifo-Institut und dem Walter Eucken Institut mit einer Machbarkeitsstudie. Es ging nicht darum, das Modell mit Alternativen zu konfrontieren, sondern um eine wissenschaftliche Begutachtung der Frage, ob und unter welchen Voraussetzungen ein solches Modell realisierbar wäre.

Was müsste eine kapitalgedeckte Säule leisten?

Zunächst stellt sich die Frage, wie hoch der benötigte Kapitalstock sein muss. Das setzt eine Vorstellung darüber voraus, wie sich der Beitragssatz bei unverändertem Pflegefallrisiko und konstanten Leistungsansprüchen allein aufgrund der Demografie entwickeln wird. Eine derartige Projektion kann nur modellhaft gelingen, weil neben den Bevölkerungsvorausberechnungen zusätzlich Annahmen zu den Wirtschafts-, Beschäftigungs- und Einkommensentwicklungen getroffen werden müssen. Obwohl die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen kaum über Jahrzehnte vorhergesehen werden können, verdeutlicht die Modellierung doch die Wirkungen der Bevölkerungsalterung. Denn die Menschen, die künftig einem hohen Pflegerisiko ausgesetzt sind, können bereits heute beobachtet werden; Kinder, die bis jetzt nicht geboren wurden, können dagegen morgen keine Beiträge zahlen.
Nach der Simulationsrechnung des Konsortiums muss der Beitragssatz bis zum Jahr 2040 bis auf 4 Prozent steigen – hier sollte er nach den Vorstellungen des BMG dauerhaft fixiert werden. Tatsächlich müsste er aber bei steigenden Aufwendungen weiter bis auf mindestens 4,6 Prozent ab den 2050er Jahren steigen – allein aufgrund der veränderten Altersstruktur der Bevölkerung, nicht etwa aufgrund zusätzlicher Leistungsversprechen. Unterstellt wurde der Rechtsstand 2019, Auswirkungen der jüngsten Reformen sind also nicht eingepreist.
Bis zum Jahr 2040 müsste ein Kapitalstock aufgebaut werden, der bei einer unterstellten nominalen Rendite von 5 Prozent und einem Schuldzins von 3 Prozent jährliche Überschüsse generiert, die den Einnahmen aus 0,6 bis 0,7 Beitragspunkten entsprechen. Dazu sind unterschiedliche Modellvarianten denkbar:
•    Zum einen können die notwendigen Bundesanleihen in einer Summe oder schrittweise bis zum Jahr 2040 ausgegeben werden – in der ersten Variante würde der Zinseszinseffekt höher ausfallen, weil die Rendite-Zins-Differenz ab dem ersten Jahr für den gesamten Kapitalstock genutzt werden kann. Unterm Strich erfordert diese Variante ein geringeres Kreditvolumen als bei einer schrittweisen Aufstockung der Bundesanleihen. Allerdings ist fraglich, ob der Kapitalmarkt bereit wäre, ein großes Kreditvolumen ohne Risikoaufschlag aufzunehmen. Um höhere Zinskosten zu vermeiden, kann deshalb auch die zweite Variante sinnvoll erscheinen.
•    Zum anderen kann die Tilgung der Bundesanleihen 2040 in einer Summe erfolgen oder in Raten bis zum Jahr 2060. In der zweiten Variante würden die Schuldzinsen länger belasten. Das erfordert ein höheres Kreditvolumen, weil die Kapitalanlage auch nach 2040 Zinskosten und jährliche Überschüsse für die SPV erwirtschaften muss.
Je nach Kombination reicht das Kreditvolumen von gut 830 Milliarden Euro (Kreditaufnahme und Tilgung erfolgen jeweils in einer Summe) bis zu knapp 1,3 Billionen Euro (die Kreditaufnahme baut sich bis 2040 auf und wird bis zum Jahr 2060 getilgt). Nach der Rückzahlung stünde ein schuldenfreies Vermögen von gut 900 Milliarden Euro zur weiteren Kapitalanlage zur Verfügung.

Wie müsste ein Kapitalstock verwaltet werden?

Selbstverständlich gelten diese Berechnungen nur für den Fall, dass die Annahmen tatsächlich eintreten. Ob die unterstellte Differenz zwischen erwarteter Rendite und Zinssatz jedes Jahr realisiert werden kann, ist aber fraglich: Leidet die Bonität des Bundes, muss mit höheren Zinskosten gerechnet werden; allerdings kann angesichts des demografiebedingten Kapitalüberhangs auch mit einem geringeren Zinsniveau gerechnet werden. Angesichts volatiler Kursentwicklungen müssen Maßnahmen zur Wert- und Liquiditätssicherung getroffen werden – beides kann auf die erzielbare Rendite drücken. Sollten die Überschüsse in einem oder mehreren Jahren geringer als erwartet ausfallen, müssten die Beitrags- oder Steuerzahler einspringen.
Die meist im Kontext der Alterssicherung diskutierten Modelle sehen zudem vor, dass die Anlage des Fondsvermögens auch ethischen (ökologischen) Kriterien folgen soll. Manche Beiträge stellen außerdem in Aussicht, das Kapital für industriepolitische Zwecke einsetzen zu wollen. Beides wäre nicht zweckmäßig. Denn die Anlage des Kapitals sollte vorrangig Effizienzzielen folgen, wenn es um die Entlastung künftiger Beitragszahler geht. Zudem sollte die Kapitalanlage über Fondsanteile oder Indexwerte erfolgen. Nur so ließe sich eine Einflussnahme des Staates auf unternehmerische Entscheidungen via Stimmrecht ausschließen.
Zu prüfen ist, ob die finanzielle Transaktion der Schuldenbremse unterläge. Das Problem ließe sich möglicherweise umgehen, indem der Bund eine rechtlich unabhängige Gesellschaft gründet und diese mit dem Recht ausstattet, eigene Anleihen auszugeben. Der Bund müsste dennoch für die Kreditschuld garantieren, damit seine Bonität auf die Fondsgesellschaft übergeht. Offen bleibt allerdings, ob ein solches Konstrukt grundsätzlich nach dem EU-Beihilferecht zulässig wäre. Denn angesichts der beschriebenen Dimensionen würden regelmäßige Transaktionen maßgeblich auf die Kursentwicklungen wirken – ein Fall für die europäischen Wettbewerbshüter, ohne deren Placet das Modell nicht umsetzbar scheint.

Richtiger Ansatz, alternative Umsetzung

Aus ökonomischer Perspektive ist aber ein anderer Einwand schlagend: Solange ein solcher Fonds mittelbar oder unmittelbar durch den Staat verwaltet wird, lässt sich nur schwer absichern, dass die Mittel auch in ferner Zukunft wie beabsichtigt verwendet und nicht zugunsten anderer Zwecke aufgezehrt werden. Denn die rechtliche Unabhängigkeit einer Fondsgesellschaft schützt nicht davor, dass der Gesetzgeber künftig zu einer anderen Vorstellung intergenerativer Gerechtigkeit gelangt und das Kapital angreift.
Gerade hier liegen aber die Vorteile einer ergänzenden, kapitalgedeckten Absicherung über private Versicherungskontrakte. Denn solange der grundgesetzlich verankerte Schutz des Privateigentums nicht angetastet wird, sichern private Versicherungslösungen die Eigentumsinteressen der Versicherten und Sparer. Deshalb sieht der Vorschlag des IW auch eine andere Lösung vor: eine verpflichtende kapitalgedeckte Ergänzung über private Versicherungen, ähnlich der mehrsäuligen Alterssicherung. Diese zweite Säule ließe sich bei Bedarf um einen Risikoausgleich erweitern und ein sozialer Ausgleich aus Steuermitteln finanzieren.

 
Prof. Dr. Michael Hüther ist Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW)
 
Dr. Jochen Pimpertz leitet das Kompetenzfeld „Öffentliche Finanzen, Soziale Sicherung, Verteilung“ im IW