Rubrik: Das sollten Sie wissen
Von Norbert Grote
Wer die aktuelle Gesetzgebung in der Pflege auf Bundesebene und die mit großem Aufwand tagende Bund-Länder-AG zur Zukunft der Pflegeversicherung anschaut, fühlt sich an Max Weber und seine Unterscheidung zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik erinnert. Dort nämlich ist deutlich mehr „Gesinnung“ als „Verantwortung“ zu erkennen. In den beiden Gesetzentwürfen des Bundesgesundheitsministeriums zur Pflege, mit denen sich der Deutsche Bundestag derzeit beschäftigt, werden viele wünschenswerte Entwicklungen wie die Kompetenzerweiterung der Pflegefachkräfte oder die Neuausrichtung des Assistenzberufes vorangetrieben, die Kernfrage blendet die Politik jedoch aktuell auf allen Ebenen aus: Wie kann es gelingen, die Versorgung einer in den nächsten Jahren weiter erheblich steigenden Zahl von Pflegebedürftigen zu gewährleisten, wenn heute schon vielerorts professionelle Versorgungsangebote fehlen, deren dringend benötigter Kapazitätsausbau zum Erliegen gekommen ist und die Zahl der aktiven Pflegekräfte kaum noch steigen, in naher Zukunft voraussichtlich sogar erheblich sinken wird.
Eine Herkulesaufgabe – eben deshalb verschließen die Verantwortlichen im politischen Raum davor offenbar die Augen.
Schon heute laufen viele Regionen in Deutschland in die Unterversorgung. Pflegebedürftige und ihre Familien finden immer schwerer einen ambulanten Dienst oder einen Heimplatz und pflegende Angehörige fehlen am eigenen Arbeitsplatz.
In den nächsten Jahren, wenn die Babyboomer erst weiter in großer Zahl in Rente gehen (unter ihnen übrigens auch sehr viele Pflegekräfte) und dann zunehmend pflegebedürftig werden, werden enorme zusätzliche Versorgungskapazitäten gebraucht – selbst wenn die derzeit so hochgehandelten Ideen von Ehrenamtseinbindung und mehr Nachbarschaftshilfen funktionieren. Mit sehr viel weniger Pflegekräften müssen dann sehr viel mehr Menschen versorgt werden. Darauf muss die Politik endlich passende Antworten finden, wenn sie keine echte Pflegekrise mit den darauffolgenden gesellschaftlichen Verwerfungen riskieren will.
Die gute Nachricht zuerst: Die Träger, die in den vergangenen Jahrzehnten die pflegerische Versorgungslandschaft in Deutschland geschaffen und abgesichert haben – freigemeinnützig und vor allem privat – stehen bereit, um mit modernen Personaleinsatzkonzepten und großen Investitionen diese Kapazitäten aufzubauen.
Die schlechte Nachricht: Weil die Politik die Versorgungssicherheit in der Pflege allenfalls in Reden und Hintergrundgesprächen in den Blick rückt, nicht aber in den Mittelpunkt ihres politischen Handelns stellt, bekommen die Träger derzeit gar keine Chance, bei der Lösung dieses zentralen gesellschaftlichen Problems ihren so wichtigen Beitrag zu leisten.
Denn die Politik – und diese Verallgemeinerung nehme ich bewusst so vor, weil alle politischen Ebenen und Farben betroffen sind – agiert getrieben von Wunschvorstellungen und blendet einfache demografiebedingte Realitäten schlicht aus. In der Rentenpolitik passiert dies mit der gerade beschlossenen Absicherung des Rentenniveaus und des quasi Ausschlusses einer Rentenreform in dieser Legislatur durch die zuständige Bundesministerin mehr als augenscheinlich – in der Pflegepolitik bedauerlicherweise ebenso.
Fünf eindrucksvolle Beispiele für Widersprüche und Inkonsistenzen in der Pflegepolitik:
Die neue Pflegeausbildung liefert nicht: Es dauerte sehr viele Jahre, bis die Idee einer generalistischen Pflegeausbildung Realität wurde. Sie wurde dann in einer Zeit, mitten im sich schon verstärkenden Fachkraftmangel, eingeführt und hat dafür gesorgt, dass der Ausbildungsmotor Altenpflege in Deutschland abrupt abgewürgt wurde. Die Altenpflegeausbildung hat für stabile Zuwachsraten und ein Plus von allein 60 Prozent innerhalb von zehn Jahren gesorgt. Diese Altenpflegefachkräfte fehlen heute schmerzlich. Egal wie man es rechnet und bewertet: Von den Wachstumsraten, die wir dringend in der Pflegeausbildung bräuchten, um die Zahl der in Rente gehenden Pflegekräfte aufzufangen, sind wir sehr weit entfernt. Diese einfache Wahrheit, die die Zahl der benötigten Pflegekräfte in den Mittelpunkt stellt, wird politisch bis dato schlicht ignoriert. Stattdessen werden aber Ausbildungszeiten im Assistenzberuf erheblich verlängert, Personalschlüssel erhöht und Qualifikationsanforderungen an Pflegeschulen hochgeschraubt. Und zeitgleich wird das politische Ziel eines Ausbaus der Ausbildungskapazitäten im Bereich der Fachkraft- und Assistenzausbildung in der Pflege ausgegeben – unter völligem Ignorieren des Ressourcenmangels im Bereich des Lehrpersonals an Pflegeschulen, der bereits seit einigen Jahren besteht und sich drastisch weiter verschärfen wird.
Internationale Pflegefachkräfte auf der Ersatzbank statt auf dem Spielfeld: Wenn der so dringend benötigte Personalaufwuchs also nicht durch die politisch als so attraktiv propagierte generalistische Pflegeausbildung gelingt, müsste doch zumindest alles dafür getan werden, dass Deutschland attraktiv für internationale Pflegekräfte ist und diese so schnell wie möglich in der pflegerischen Versorgung zum Einsatz kommen können. Aber nein: Wichtiger ist offenbar die sprichwörtliche deutsche Gründlichkeit. Wir lassen in Deutschland mehr als die Hälfte aller internationalen Pflegefachkräfte aus Drittstaaten Anerkennungsverfahren mit langwierigen Anpassungsmaßnahmen durchlaufen – 500 Tage im Durchschnitt! Ein Drittel dieser gut und häufig sogar akademisch ausgebildeten Fachkräfte brechen die langen Anerkennungsverfahren ab und verweilen im Hilfskräftestatus – oder kehren Deutschland komplett den Rücken. Warum lassen wir hervorragend ausgebildete Pflegefachkräfte aus Drittstaaten, die über eine Spracherwerbsbescheinigung auf B2-Niveau verfügen, nicht von Tag 1 an als Fachkräfte tätig sein? Damit könnten von heute auf morgen 11.000 zusätzliche Pflegefachkräfte umgehend viele tausend pflegebedürftige Menschen zusätzlich versorgen – und das ohne finanzielle Kosten, lediglich der politische Wille müsste dazu endlich einmal aufgebracht werden. Die betroffenen Familien würden es der Politik danken, stattdessen bleibt sie weiter untätig und schiebt den Ball zwischen Bund und Ländern, die beim Pflegeberufegesetz mitbestimmen dürfen, hin und her. Wer sich wirklich ernsthaft im politischen Raum mit der Frage beschäftigt, wer die steigende Zahl von pflegebedürftigen Menschen heute und vor allem in der Zukunft pflegt, müsste die Kompetenzvermutung noch heute umsetzen.
Neue Sektoren führen nicht zu mehr Versorgungssicherheit: Wir diskutieren in Deutschland seit Jahren die sektorenübergreifende Versorgung in der Pflege und beschäftigen uns – wie schon erwähnt – mit der Absicherung und dem notwendigen Ausbau professioneller Pflegangebote. Der Bundesgesundheitsministerin fällt jedoch in diesen Zeiten nichts Besseres ein, als im Rahmen der aktuellen Pflegegesetzgebung einen dritten Sektor in der Pflege – gemeinschaftliche Wohnformen, von Lauterbach damals „stambulant“ genannt – einführen zu wollen. Ein komplett neuer leistungs- und vertragsrechtlicher Rahmen, den die Selbstverwaltung in der Pflege in einem Zeitraum von zwölf Monaten ausverhandeln soll, mit negativen Implikationen und Existenzrisiken für alle bestehenden ambulanten Wohngemeinschaften in Deutschland. Wem soll das helfen? Geht so Entbürokratisierung? Dass sich alle maßgeblichen Verbände von Kostenträger- und Leistungserbringerseite, Nutzerseite, Wissenschaft und Fachorganisationen der Wohngemeinschaften in Deutschland in der ersten Anhörung zum damals noch PKG heißenden Gesetz geschlossen gegen einen neuen Sektor in dieser Form ausgesprochen haben, zählt im Bundesgesundheitsministerium nichts. Und zu befürchten ist, dass auch aus dem Parlament, wo selbstverständlich politisch gegengesteuert werden könnte, kein Gegenwind kommt.
Kommunale Bedarfssteuerung macht Bock zum Gärtner: In Zeiten eines personalmangelbedingten Rückgangs von professionellen Pflegeangeboten, in Zeiten in denen zunehmend immer mehr Kommunen nicht einmal mehr ihre Zahlungsverpflichtungen gegenüber den Pflegeeinrichtungen administriert bekommen sowie erhebliche organisatorische und finanzielle Herausforderungen im Zusammenhang mit der Migration auf den Kommunen lasten, sollen die Kommunen mehr Steuerungsverantwortung in der Pflege erhalten. Das ist Ziel der aktuellen Pflegegesetzgebung aus dem Bundesgesundheitsministerium. Wie sollen die Kommunen das leisten? Zudem besteht die berechtigte Sorge, dass bei der Planung neuer Angebote auch die Kassenlage der Kommune eine Rolle spielt. So zementiert man Mangelversorgung und sorgt für gesellschaftliche Unwuchten gerade da, wo die kommunale Daseinsvorsorge ohnehin schon an ihren Grenzen ist. Träger haben gut im Blick, welche Angebote benötigt werden, weil sie diese mit großem eigenem Risiko schaffen. Angesichts der künftigen Bedarfe brauchen wir die Kommunen als „Ermöglicher“ und übrigens auch als zentrale Akteure in der Prävention, um Pflegebedürftigkeit so spät wie möglich eintreten zu lassen. Denn Deutschland hat nicht nur das Problem des stetigen Anstiegs der Zahl der Pflegebedürftigen, die Länge der Pflegebedürftigkeit nimmt ebenfalls zu, ein neues und problemverschärfendes Phänomen.
60 Millionen Seiten – Bürokratismus hat weiter Hochkonjunktur: Was für ein Moment der Hoffnung. Der neue Titel des früheren PKG, eine der wenigen wirklichen Veränderungen zum Ampel-Gesetzentwurf, trägt die Entbürokratisierung in sich. Und was für eine Enttäuschung beim Blick in das „Gesetz zur Befugniserweiterung und Entbürokratisierung in der Pflege“. Keine einzige Regelung begrenzt wirklich bürokratischen Aufwand der Einrichtungen, stattdessen werden mit der schon erwähnten kommunalen Steuerung und auch dem geplanten dritten Sektor immense neue Regularien und Verfahren geschaffen. Schon jetzt ersticken die Pflegekräfte unter der Schreibtischarbeit, gleichzeitig wird in Deutschland Hygienegesetzgebung und Medizinproduktegesetzgebung perfektioniert. Entbürokratisierung muss man aber nicht nur wollen, man muss sie machen. Wie aber, wenn es für die Digitalisierung im Pflegealltag noch immer keine regelhafte Refinanzierung gibt, aber das Ministerium 10 Millionen Euro für ein neues Kompetenzcenter beim GKV-Spitzenverband übrig hat? Die digitalen Lösungen sind doch längst da, aber die Potenziale werden nicht ausgeschöpft, obwohl sie enorm dabei helfen könnten, so viele Menschen wie möglich pflegerisch zu versorgen. Der größte deutsche Anbieter von stationärer Pflege druckt derzeit jedes Jahr 60 Millionen Seiten Papier aus – aufgrund bürokratischer Anforderungen, obwohl es längst schlankere Verfahren und digitale Alternativen gibt. Ein Wahnsinn, den die Politik aber achselzuckend zur Kenntnis nimmt. Für mehr als Sonntagsreden reicht es jedenfalls nicht.
Also: Weg mit der Gesinnung, her mit der Verantwortung. Um die Versorgung der Pflegebedürftigen in Deutschland nachhaltig abzusichern, muss sich eine neue Vertrauenskultur gegenüber den Trägern und den Pflegekräften etablieren, die sich auch wirklich im politischen Handeln ausdrückt. Die stabile pflegerische Versorgung für alle, die sie brauchen, muss im Mittelpunkt aller politischen Aktivitäten stehen. Nur dann bleibt die Pflege in Deutschland sicher.
