Das Interview mit Steffen Kampeter, Hauptgeschäftsführer der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), erschien in der neuen Ausgabe 2/2024 des bpa.Magazins, das alle Mitglieder in Kürze als Print-Version erhalten und hier bereits zum Download bereitsteht.
(bpa) Herr Kampeter, während die Zahl der Pflegebedürftigen ständig steigt, erlebt Deutschland derzeit einen Rückbau der pflegerischen Versorgungsstrukturen. Spüren die Unternehmen bereits, dass Mitarbeitende ausfallen, weil die Versorgung von pflegebedürftigen Angehörigen nicht gesichert ist, oder organisiert werden muss?
Es ist richtig, dass der Bedarf an Pflegekräften in Deutschland auch demografisch bedingt zunimmt und die Herausforderungen immer größer werden, diesen Bedarf abzudecken. Das zeigt sich zunehmend auch im betrieblichen Alltag. Denn der größte Pflegedienst ist immer noch die Familie. Laut Statistischem Bundesamt werden vier von fünf der 5 Millionen Pflegebedürftigen zu Hause versorgt. Nach aktuellen Befragungen sind über 80 Prozent der Hauptpflegepersonen im erwerbsfähigen Alter auch berufstätig.
Uns muss klar sein, dass adäquate Versorgungsstrukturen bereitstehen müssen, damit Beschäftigte gerade nicht ausfallen. Insbesondere Tagespflegeangebote und Angebote der Kurzzeitpflege sind bedarfsgerecht auszubauen. Und auch die Unternehmen selbst tun viel, für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, um Mitarbeitende zu unterstützen, zu motivieren, zu halten und neue Mitarbeitende auf dem deutschen Arbeitsmarkt zu gewinnen. Ein Vorteil dabei ist, dass Lösungen auf betrieblicher Ebene möglichst individuell gefunden werden können. Denn jeder Pflegefall ist anders und die betrieblichen Unterstützungsmöglichkeiten können sehr unterschiedlich und passgenau ausgestaltet werden.
Der Zusammenhang ist allen klar: Wenn es zu wenig Kitaplätze gibt, können Eltern oftmals nicht in Vollzeit arbeiten. Ist der gleiche Zusammenhang zwischen Pflegeplätzen und Arbeitsfähigkeit schon allen Politikerinnen und Politikern bewusst?
Das kommt darauf an. In den letzten Jahren wurden für die Beschäftigten Möglichkeiten geschaffen, Pflege von Angehörigen flexibel zu gestalten, z. B. durch eine Brückenteilzeit, Pflegezeit oder Familienpflegezeit. Die Politik plant nun auch noch die Erweiterung der Ansprüche auf Familienpflegezeit. Insoweit haben fachkundige Politiker ein gewisses Problembewusstsein für diese Frage entwickelt.
Zudem gilt: Bei allen Plänen zur Erweiterung der Ansprüche auf Familienpflegezeit dürfen betriebliche Interessen und Möglichkeiten zur Unterstützung nicht außer Acht gelassen werden. Niemandem ist geholfen, wenn Betriebe nicht mehr handlungsfähig sind, weil ein Gros der Beschäftigten andere Ansprüche geltend macht. Vorrangig sollten deshalb immer individuelle Lösungen für eine gute Vereinbarkeit gesucht werden.
Und auch die noch immer in weiten Teilen unzureichende Betreuungsinfrastruktur für pflegebedürftige Angehörige erschwert die Aufrechterhaltung und Ausweitung des Arbeitsangebots. Hier muss die Politik ihrer Verantwortung nachkommen und die Pflegeinfrastruktur bedarfsorientiert ausbauen.
Fehlende Mitarbeitende in der Pflege verstärken zunehmend den Personalmangel in anderen Branchen. Unternimmt die Bundesregierung genug oder brauchen wir hier auch ein stärkeres Engagement der Wirtschafts- und Arbeitsmarktpolitik?
In Deutschland sind rund 3,2 Millionen Menschen, die grundsätzlich arbeiten möchten, nicht erwerbstätig. Ein Teil davon kann dies auch wegen Pflegeverantwortung nicht. Es gibt hier also Potenzial für die Gesamtwirtschaft. An diese ‚stille Reserve‘ müssen wir stärker ran – auch die Arbeitsagenturen und Jobcenter. Der arbeitsmarktpolitische Werkzeugkasten bietet ausreichende Fördermöglichkeiten, die auch zur Unterstützung der Arbeits- und Fachkräftesicherung in der Pflege geeignet sind. Die Anwerbung ausländischer Pflegefachkräfte über die Bundesagentur für Arbeit ist aber sicherlich nur ein Tropfen auf den heißen Stein. Ich rechne nicht damit, dass wir auf absehbare Zeit hier sehr viel größere Fallzahlen hinbekommen werden.
Zudem ist aus Sicht der Arbeitgeber die Fehlausrichtung des Bürgergeldsystems problematisch. Es setzt falsche Prioritäten. Anstatt die Vermittlung in Arbeit zu fördern, werden Anreize zur Nicht-Arbeit verstärkt. Hier haben wir sehr klar gesagt, dass dringender Handlungsbedarf besteht.
Was raten Sie Ihren Mitgliedsunternehmen, die solche Effekte beobachten? Kann das Miteinander zwischen Pflegeanbietern und lokaler Wirtschaft noch enger werden?
Auch hier gilt, dass auf betrieblicher Ebene die Lösungen am besten individuell und vor Ort gefunden werden sollten. Um spezifische Herausforderung gezielt anzugehen, können gerade kleine Arbeitgeber von regionalen Netzwerken profitieren und im branchenübergreifenden Austausch passgenau auf Einzelfallsituationen reagieren.
Der Mangel an Pflegekräften wird auch durch eine schleppende Anerkennung internationaler Kräfte getrieben. Muss Deutschland dabei unbürokratischer und schneller werden?
Die Anerkennung von Berufsqualifikationen ist viel zu bürokratisch. Vor allem Fachkräfte, die ihre Qualifikation im Ausland erworben haben, bekommen das zu spüren. Insbesondere im Bereich der Pflege, indem qualifizierte Fachkräfte zeitkritisch eingestellt werden müssen, sind die Verfahren zu kompliziert. Sie erschweren und verlangsamen den Zugang zum Arbeitsmarkt. An konkreten Verbesserungsvorschlägen mangelt es sicher nicht. Dass hier Handlungsbedarf besteht, ist ein offenes Geheimnis. Hinzu kommen Abstimmungsschwierigkeiten zwischen den Bundesländern bei der Integration ausländischer Fachkräfte in den Arbeitsmarkt. Ich bin immer wieder fassungslos, wenn ich höre, dass Menschen aus dem Ausland, die ein Anerkennungsverfahren im Pflegebereich in einem Bundesland erfolgreich absolviert haben, in einem anderen Bundesland nicht arbeiten dürfen.
Unternehmerisches Engagement in der Pflege wird in manchen politischen Kreisen immer noch in Frage gestellt, obwohl die privaten Unternehmen hier zehntausende Arbeitsplätze geschaffen haben. Verstehen Sie das?
Nein, denn am Ende zählt nur, dass wir dem bestehenden und steigenden Pflegebedarf gerecht werden. Dies gelingt am besten mit einem breiten Angebot und einem lebendigen Wettbewerb. Private Anbieter leisten hier einen substanziellen Beitrag mit wettbewerbsfähigen Angeboten, guter Pflege und guten Arbeitsbedingungen. Die Politik wäre gut beraten, die ohnehin schon herausfordernde Situation in der Pflege nicht noch durch ideologisch getriebene Auseinandersetzungen zu polarisieren.
Sind die großen Herausforderungen der Zukunft, vom Klimawandel bis zum demographischen Wandel, ohne Vertrauen in die Unternehmen überhaupt zu lösen?
Wohl kaum. Die Unternehmer sind der Kern unserer sozialen Marktwirtschaft. Sie stiften Wohlstand und geben Arbeit. Sie sind der Motor unseres Landes. Ohne Unternehmen gäbe es keine Arbeitsplätze, keine Wertschöpfung, keine Steuereinnahmen, keine Milliarden, die für Bildung, Gesundheit, Rente, Infrastruktur und Sicherheit ausgegeben werden können.
Es gibt politische Strömungen, die Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland heraus drängen wollen. Welche Konsequenzen hätte dies für unser Land und den Wirtschaftsstandort?
Die Europawahl ist hier aktueller Gratmesser. Daraus ergibt sich ein klarer Auftrag aus der Mitte der Gesellschaft heraus. Die Politik der EU-Institutionen – aber eben auch die nationale Regierung – muss sich auf ihre Stärken besinnen und die Chance nutzen, sich neu auszurichten. Ich lese aus den Ergebnissen einen klaren Auftrag an die Regierenden, Wettbewerbsfähigkeit und Stabilität auch gegen die Ränder durchzusetzen. Nichtsdestotrotz besorgen mich die hohen Zustimmungswerte der AfD. Das sind alarmierende Entwicklungen in Deutschland und ein Zeichen dafür, dass die Menschen mit der Ampel-Politik alles andere als zufrieden sind.
Aus meinen persönlichen Erfahrungen als Abgeordneter kann ich nur an die Politik appellieren, sich der Mitte zuzuwenden. Sie müssen die Sorgen und Ängste der Bürgerinnen und Bürger ernst nehmen. Zuhören, nachdenken, handeln – muss die Devise lauten. Die Menschen müssen wieder mehr Vertrauen finden, dass ‚die da oben‘ gute Entscheidungen für sie treffen. Dazu gehört eine volksnahe und pragmatische Haltung zur Lösung der Alltagsprobleme wie Bürokratieabbau, Infrastrukturausbau, erschwingliche Lebenshaltungskosten, niedrige Energiepreise, gute Bildungschancen, sichere Arbeitsplätze, attraktive Arbeitsbedingungen, verlässliche Alterssicherung, funktionierende Gesundheitsversorgung etc. pp. Das muss für die Pflegekraft in Grevenbroich ebenso funktionieren wie für den Lehrer in Leipzig, die Elektroingenieurin in München und den Handwerksmeister in Neubrandenburg.